Der britische Komponist Gustav Holst (1874-1934) ist Musikliebhabern als Schöpfer der Planetensuite vertraut. Diese mächtige Komposition für großes Sinfonieorchester nutzten junge Leute in den Siebzigern gern zur musikalischen Untermalung psychedelischer Erlebnisreisen, und auch die moderne Popmusik (beispielsweise die englische Rock-Gruppe Emerson, Lake & Powell) adaptierte Teile der einstündigen Tondichtung.
Holst hat indes viel mehr klangfarbenfrohe Musik geschrieben als diesen, den sieben seinerzeit bekannten Planeten unseres Sonnensystems gewidmete, astrologisch beeinflusste Sternzeichenmusik. Bereits im siebten und letzten Planeten-Satz, der den mystischen Neptun beschreibt, kommt ein sechsstimmiger Frauenchor zum Einsatz. Den Chor nutzte der Komponist als Instrument und band ihn in das Orchester ein.
Künftig spielte der Chor eine tragende Rolle in seinem Werk. Deutlich wird das an der dreißigminütigen Kammeroper Sāvitri, die er im Anschluss an die Planetensuite schrieb. Holst fiel ein Buch über die Heiligen Schriften der Inder in die Hand, er geriet darauf in einen Indien-Rausch und erlernte Sanskrit, um direkt die Weisheit des Subkontinents aus den Quellen schöpfen zu können. 1916 schrieb und komponierte er die Kammeroper Sāvitri nach einer Episode aus dem Mahabharata, dem Nationalepos der Inder.
Der Einakter für drei Sänger, zwölfköpfiges Kammerorchester und wortlosen Chor schildert, wie die schöne Sāvitri den Todesgott Djamal überlistet, um ihren Gatten, den Holzfäller Satyavān zu retten. Der für neue Wege im Musiktheater stehende Holst wollte das Stück außerhalb von Opernhäusern aufführen, am besten im Freien oder in kleinen Gebäuden. Das Rundfunkorchester Berlin unter Chefdirigent Simon Hasley nahm sich nun des selten aufgeführten Kleinods an und verlegte es in den sagenumwobenen Berliner Techno-Tempel Berghain.
Angeregt durch die regelmäßig hier stattfindende Yellow Lounge des Musiklabels Deutsche Grammophon/Universal entschied sich Hasley, die Aufführung in dem ehemaligen DDR-Heizkraftwerk mit Darkrooms und einem 18 Meter hohen Dancefloor stattfinden zu lassen.
Begleitet von sphärischen, zwischen Hymnen und Kelten-Folk angesiedelten Gesängen des Berliner Rundfunkchors, der schwarz gewandet voranschritt, bewegte sich das Publikum über ein eisernes Treppenhaus in das Innere des Clubs. Dort gingen die drei Solisten Susan Bickley als stimmstarke Sāvitri (Mezzosopran), Christopher Gillett als Satyavān (Tenor) und Konrad Jarnot als Todesgott (Bariton) gemessenen Schrittes zwischen den Zuhörern umher und erstiegen eine schlanke gusseiserne Feuertreppe, von der sie ihre Parts sangen.
Auf Podien aus Kabeltrommeln bewegten sich drei Schlangenmenschen. Nach einer auf die Musik fein abgestimmten Choreographie von Regisseur Lars Scheibner übersetzen diese Akrobatinnen die Stimmungen der Musik in Bewegungsabläufe. Ihre Leistung wurde im Berghain durch ausgefeilte Lichttechnik sichtbar, während der Chor seinen sphärisch-sinfonischen Singsang durch den nahezu stockfinsteren Raum fließen ließ und eine mystisch-transzendente Stimmung schuf.
Es mag darüber gestritten werden, ob ein Szene-Club der angemessene Ort für die Darbietung einer Kammeroper ist. Unübersehbar aber wurden Menschen von der Veranstaltung und/oder der Örtlichkeit angezogen, die nie zuvor ein Opernhaus betreten haben. Simon Halsey und der Rundfunkchor Berlin mit seinen 64 fest angestellten Berufs-Sängerinnen und Sängern haben mit der Aufführung dieses dramatisch-psalmodierenden Werks in einem auch akustisch schwer zu beherrschenden Raum eine eindrucksvolle Grenzüberschreitung gewagt, die Respekt verdient.
Gleich gegenüber der Oper Frankfurt lacht der Euro als Monumentalplastik dem Steuerzahler frech ins Gesicht, während sich drinnen der Vorhang hebt zum ersten Abend der Tetralogie von Richard Wagners Ring des Nibelungen. Im »Rheingold« wird erzählt, wie die Gier nach Geld und Gold aus dem Urschleim der Geschichte gewoben wird und unaufhaltsam die Welt vergiftet.
Regisseurin Vera Nemirova inszeniert die Parabel um Liebe und Gold indes als sphärisches Märchen aus einer anderen Galaxie. Sie vermeidet jeden Bezug zu den geldgeilen Kraken von Krankfurt, die in den umliegenden Glitzertürmen die Welt ins Wanken bringen. Ihre Rheintöchter, Zwerge und Götter spielen auf fünf kreisenden Saturnringen (Bühnenbild: Jens Kilian). Werktreu erzählt sie die Geschichte von den Rheintöchtern Woglinde, Wellgunde und Floßhilde, die den um ihre Zuneigung werbenden Zwerg Alberich verspotten und ihn schließlich auf die Idee bringen, die Liebe zu verfluchen, das Rheingold zu stehlen und daraus den Ring der Macht zu schmieden.
Göttervater Wotan nimmt derweil den Bau seiner Götterburg Walhall ab, die ihm die Riesen Fasolt und Fafner auftragsgemäß errichtet haben. Als Lohn versprach er den Bauleuten Freia, die Göttin der Liebe, die in ihrem Garten die Äpfel der ewigen Jugend züchtet. Als er jedoch zahlen soll, widersetzt sich Wotan, es kommt zu heftigem Streit mit seinen Lieferanten, den auch die zur Hilfe eilenden Götter Donner und Froh sowie Halbgott Loge nicht schlichten können. Als Loge jedoch vom Rheingold berichtet, um dessen Rückgabe die Rheintöchter Wotan bitten, wird ihre Gier geweckt und sie willigen ein, Freia (und damit die Liebe) gegen den Schatz zu tauschen.
Wotan steigt darauf mit Loge in die Unterwelt, in der Alberich die Nibelungen mittels des mächtigen Ringes zwingt, seinen Reichtum zu mehren. Er unterwirft den Dieb und raubt den Hort. Urmutter Erda, mit der Frauenheld Wotan die Walküren zeugte, taucht aus dem Erdinneren auf und prophezeit das Ende der Götter: die Götterdämmerung.
Die Riesenbrüder Fasolt und Fafner werden mit dem Rheingold ausbezahlt. Sie fordern und bekommen auch den magischen Ring, den Wotan gern behalten möchte. Dessen Fluch geht auf die Erbauer von Walhall über: Fasolt erschlägt Fafner und bemächtigt sich des Schatzes. Die Götter beziehen schließlich ihren neuen Wohnsitz, während Wotan bereits Pläne schmiedet, wie er den Fluch des Goldes und damit den von Erda verheißenen Lauf der Geschichte abwenden kann
In Nemirovas Inszenierung mutieren die Götter zum Schluss in Salonlöwen, die ins Publikum gehen und diese quasi in das Spielgeschehen einbeziehen. Während sie sich gegenseitig mit Champagner zuprosten und ihr neues Domizil feiern, fällt der Vorhang. Dies ist einer der wenigen Szenen, in der die Regisseurin eigene Ansätze zeigt, die über das konventionelle Erzählen hinausgehen.
Ansonsten sind es inszenatorische Zugaben, die aber seltsam ungereimt bleiben: Mal tauchen vier weitere Riesen zur Verstärkung von Fasolt und Fafner auf, die beim Abtransport des Goldes (wo sie wirklich gebraucht werden könnten) wiederum fehlen. Als die Göttin der Jugend verschleppt wird, sieht man die Vision der Götter, die sich gebeugt und greis über die Bühne schleppen; diese Szene wiederholt sich später beim Einzug in Walhall, wobei Freias jüngendes Obst längst wieder auf dem Speiseplan steht und die Gefahr des Alterns abgewendet ist. Alberichs Verwandlung in einen Furcht erregenden Lindwurm wird pantomimisch mit farbigen Handschuhen dargestellt und geriert zum Kasperletheater.
Was der Regie an Einfällen fehlt, macht die Musik locker wett: Musikalisch ist das Frankfurter Rheingold umwerfend. Sebastian Weigle bändigt das Opernorchester und beherrscht die monumentale Musik Wagners. So werden sowohl die insgesamt sechs Harfen hörbar, auch die Streicher entfalten ihren schimmernd seidigen Klang selten gleichberechtigt neben dem dramatisch tönenden Blech. Das behutsam aufsteigende Orchestervorspiel mit seinen 136 langen Takten Es-Dur macht den Atem stocken. Leider setzt sich bereits im Vorspiel die tonnenschwere Bühne vollkommen unnötig ächzend und stöhnend in Bewegung und stört den Zauber.
Stimmlich ragen Alberich (Jochen Schmeckenbecher), Wotan (Terje Stensvold) und Loge (Kurt Streit) hervor. Die Sänger müssen diesmal – wie häufig bei Wagner-Opern – nicht gegen die Klangwut aus dem Graben kämpfen, Weigles Dirigat lässt ihren Stimmen Raum, sich differenziert auf ihre Rollen einzustellen.
Im Ergebnis ist der Start des dritten Frankfurter Ring-Zyklusses ein musikalischer Genuss. Die Chance, vor der Kulisse der Frankfurter Banken einen zeitgemäßen oder aktuellen Ansatz zu suchen, wurde hingegen vertan. Ende Oktober 2010 wird Vera Nemirova mit der Walküre den zweiten Abend von Wagners monumentaler Kapitalismus-Kritik präsentieren.