Foto: ©Matthias Heyde/Neuköllner Oper
Weihrauch und Glockengeläut erwarten die Besucher der Neuköllner Puppenstubenoper, die sich damit hinter die geschlossenen Pforten der Vatikanstadt locken lassen, um einen Krimi von römischem Format zu erleben. Bigotte Kardinäle, Mafiapaten, korrupte Banker und schöne Frauen treten auf, in einem italienischen Café im rechten Bühnenraum bläst eine sechsköpfige Banda, alles ist Bella Italia, eigentlich fehlt nur noch ein notgeiler Regierungschef, um das Panoptikum zu vervollständigen.
Doch das Thema ist ernst, es geht um Kindesentführung, Missbrauch und Mord, und das verdeutlicht gleich zu Beginn der Inszenierung ein Erzähler. Er sitzt in der Krypta der Basilika Sankt Apollinaire, blickt auf das Grab des dort begrabenen Mafia-Bosses de Pedis und berichtet von verschwundenen Mädchen. Denn »Der Fall Rigoletto« erzählt die wahre Geschichte der Entführung Emanuela Orlandis am 22. Juni 1983 in Rom, der 15jährigen Tochter eines Mitarbeiters des vatikanischen Präfektur, die in der Hand der vermutlich von Kardinälen beauftragten Mafia fiel. Obwohl alle Spuren der Vermissten in den Vatikan führen, weigern sich die kirchlichen Beamten bis heute, eine Untersuchung zuzulassen. So bleibt es den verzweifelten Eltern, einer kritischen Öffentlichkeit und letztlich der Oper, auf den Fall aufmerksam zu machen.
Um die nicht nur kirchenpolitisch brisante Geschichte »opernfähig« zu machen, zieht Regisseur Bernhard Glocksin eine Parallele zu Giuseppe Verdis Oper »Rigoletto«, einem ursprünglich den französischen Hof kritisierenden Werk, das erst unter dem Einfluss der Zensur »italinisiert« wurde. Auch bei Verdi muss ein Vater, der Hofnarr Rigoletto eben, hilflos zusehen, wie sein Kind vor seinen Augen von Mächtigen entführt, missbraucht und letztlich ermordet wird. Ein Vergleich zum absolutistisch regierten Hofstaat Vatikan liegt daher nah, und so klingen immer wieder Verdis Gassenhauer wie »La donna è mobile« an, die vom Mini-Orchester unter Hans-Peter Kirchberg stimmungsvoll intoniert werden.
Dazwischen windet sich die Diseuse Etta Scollo, die mit Ferdinand von Seebach die musikalische Einrichtung besorgte. Die ursprünglich aus Sizilien stammende Künstlerin singt gepresst klagend sechs Chansons als Aktschlüsse. Es sind Spottlieder auf den Vatikan, Liebes- und Klagelieder.
Insgesamt scheint mir der Erklärungsbedarf allerdings zu hoch in dieser Rigoletto-Fantasie, das Thema ist für den Berliner Multikulti-Bezirk Neukölln allzu weit entfernt. Diese Ferne geht zu Lasten der Inszenierung und der Musik. Vielleicht entschied sich die Neuköllner Oper deshalb zu einem für ihre Verhältnisse ungewöhnlich dicken Programmheft. Dort wird der Kontext der Entführung umfangreich ausgebreitet, Hintermänner und mögliche Täter der Entführung werden genannt.
»Freundlich blicke ich auf diese und jene, die wie Sterne mich leuchtend umschweben«, singt der geile Herzog von Mantua in Verdis »Rigoletto«. Im »Fall Rigoletto« wird deutlich, dass auch die Augen mancher Kardinäle »freundlich« auf diesen und jene blicken. Reichen die Wagenladungen männlicher und weiblicher Lustdiener, die regelmäßig in den Kirchenstaat gekarrt werden, um das Zölibat zu feiern, nicht aus, dann wird auch schon mal ein junges Ding, das vor den Fenstern der Kirchenfürsten zur Schule läuft, auf die Speisekarte gesetzt. Insofern hat die »Neuköllner Oper« ein heißes Eisen anspruchsvoll inszeniert.
Londons Stadtteil Soho riecht verrucht. Süßer Duft schwerer Räucherkerzen schwängert die Luft und mischt sich mit gelbem Frittenfett von Fish & Chips. Bunt gemischtes Volk bummelt durch farbenfroh gestaltete Ladenzeilen. Schwulenbars, Erotikshops, kleine Cafés und exotische Restaurants bieten Genuss für alle Sinne. In Chinatown tanzen hunderte roter Lampions zwischen kleinen Garküchen, hinter deren Fenstern Pekingenten triefend glänzen. Taxen schwärmen hornissengleich über die Verbindungsstrassen und jagen feuermelderrote Doppeldeckerbusse. Aus einem geöffneten Fenster fliegt Sitarmusik, und vor einer hundertjährigen Eckkneipe fleht ein mitternachtsschwarzer Mann in einem nur ihm bekannten Dialekt den Himmel um Vergebung an. HIER geht es weiter →
Riesen-Video von Prinz Rupi
Auf Einladung von spielzeiteuropa, der Theater- und Tanzsaison der Berliner Festspiele, gastierte das französische Straßentheater Royal de Luxe in Berlin und erinnerte mit ihrem Riesen-Märchen von Trennung und Wiederfinden auf einzigartige Weise an die Vereinigung der beiden deutschen Staaten DDR und BRD in 1989.
Die Geschichte begann so fantastisch wie ein Riesen-Märchen nur beginnen kann: Vor langer, langer Zeit, als Berlin noch ein Sumpfgebiet war, lebten dort Riesen. So auch der Große Riese und seine Nichte, die Kleine Riesin. Als eines Tages Land- und Meeresungeheuer die Stadt teilten, einen Teil mit Mauern umschlossen und so die Riesen trennten, begann für beide eine schmerzvolle Odyssee. Während die Kleine Riesin sich mit ihrem Boot auf die Suche nach ihrem Onkel begab, gelang es dem Großen Riesen nach vielen Jahren, den schlafenden Geysir am Meeresgrund zu finden. Unsaft geweckt, lässt dieser die Erde erbeben und bringt so die Mauer zum Einsturz der Weg für ein Wiedersehen ist geebnet.
An dieser Stelle setzt die Geschichte ein, die der künstlerische Leiter und Gründer von Royal de Luxe, Jean Luc Courcoult zur Erinnerung an den Mauerfall vor 20 Jahren geschrieben hat. Vier Tage lang verwandelte sich Berlin in eine lebendige Theaterkulisse und veranstaltete das viertägige Open-Air-Spektakel »Le rendez-vous de Berlin Das Wiedersehen von Berlin«.
Die phantasievolle Inszenierung mit den riesigen Marionetten faszinierte Millionen Menschen, die zusammen strömten, um das Spektakel zu sehen.
Regisseur Christof Loy schaute sichtbar verdutzt, als er nach der Premiere seiner Inszenierung von Wagners Musikdrama »Tristan und Isolde« auf die Bühne des Londoner Royal Opera House trat, um Rosen in Empfang zu nehmen, stattdessen jedoch ein tausendstimmiges britisches Buuuuuuuhhh kassierte. Publikum und Presse der Themsestadt hegten hohe Erwartungen, doch diese wurden ganz offensichtlich nicht befriedigt.
Dabei ist »Tristan und Isolde« ein Stoff, der alle Möglichkeiten bietet, zumal er sogar in Britannien spielt: Der verwitwete König Marke aus Cornwall schickt seinen treuesten Freund und Verwandten Tristan per Schiff als Unterhändler nach Irland, um ihm dort als Friedensgeschenk zwischen den verfeindeten Nationen eine Gemahlin abzuholen, die »irish maid« Isolde eben. Die verkaufte Braut wiederum kennt Herrn Tristan bereits, der Jahre zuvor ihren Geliebten Morold im Zweikampf erschlug, dabei selbst schwer verwundet wurde und nur dank ihrer legendären Heilkünste gerettet wurde. Isolde fühlt sich gedemütigt, dass der Mörder ihres Verlobten jetzt als Brautwerber für seinen alten Onkel Marke auftritt. Um »zu sühnen alle Schuld« will sie ihn und auch sich selbst in die ewigen Jagdgründe schicken.
Die Sache wird spannend. Drogen kommen ins Spiel. Isolde weist ihre Zofe Brangäne an, »kennst du der Mutter Künste nicht«, ihr einen Todescocktail zu mixen. Die wiederum vertauscht die Mixturen und serviert einen Liebestrank, der starke Wirkung zeigt. Denn sobald Tristan und Isolde einen kräftigen Schluck Love Potion genommen haben, entflammen sie in heftiger Zuneigung und verschmelzen als ein Herz und eine Seele. So geht es nach Cornwall.
Im zweiten Akt empfängt die inzwischen mit dem Monarchen verheiratete Isolde ihren heimlichen Lover in Markes Burg Tintangel zum nächtlichen Stelldichein und löscht selbst das Licht, um ihn im Dunkel der Nacht zu sich zu rufen. Die Love Story kulminiert. »O sink hernieder, Nacht der Liebe, / gib Vergessen, dass ich lebe; / nimm mich auf in deinen Schoß, löse von der Welt mich los! / So stürben wir, um ungetrennt ewig einig, ohne End, / ohn Erwachen ohn Erbangen namenlos in Lieb umfangen, / ganz uns selbst gegeben, der Liebe nur zu leben! / Ohne Nennen, ohne Trennen, neu Erkennen, neu Entbrennen; / ewig endlos, ein-bewusst: heiß erglühter Brust höchste Liebeslust!«
Tristan und Isolde schwören sich das mittelalterliche Motiv des Aufgehens im gemeinsamen Liebestod als höchste Erfüllung (ein Motiv, das Wagner auch in seiner Oper »Der fliegende Holländer« ausführlich thematisiert). Als King Marke vom Betrug seines treulosen Freundes erfährt und wenig »amused« reagiert, ist die Sache für Tristan klar: er will als echter Ritter der Liebe willen in den Tod gehen. Isolde erklärt, ihm folgen zu wollen. Der liebestolle Held stürzt sich in das Schwert, das Markes Vasall Melot gegen ihn zieht und verletzt sich damit selbst tödlich.
Im dritten Akt vollzieht sich Tristans langes Sterben. Auf seiner Burg Karneol auf dem französischen Festland wartet er mit Freund Kurvenal auf die Ankunft eines Schiffes aus Cornwall, das ihm Isolde bringt. Als diese endlich eintrifft, stirbt er in ihren Armen. Sie bricht darauf verklärt zusammen und singt mit »Mild und Leise« eine der herzbewegendsten Wagner-Arien. Derweil kommt Marke mit Gefolge auf einem weiteren Schiff an. Der König wurde von Brangäne über die Wirkung der verabreichten Drogen aufgeklärt, er verzeiht seinem Neffen und möchte ihm sogar Isolde überlassen. Doch er kommt zu spät. Tristan und Isoldes Seelen sind bereits ins »Wunderreich der Nacht« entschwunden.
Was macht nun Christof Loy aus dem prächtigen Stoff? Er verschenkt in seiner Inszenierung nahezu alles, was ihm Wagner auf dem Silbertablett liefert. Abgesehen von einem spartanisch-minimalistischen Bühnenbild, das lediglich aus Stuhl, Tisch und Hocker besteht, nutzt Loy einen schweren Vorhang als Element, das Tristan und Isolde vom hinteren Bühnenraum trennt. Dort bewegt sich eine schwarz gekleidete Herrengesellschaft in oft slapstickartig erstarrten Bewegungen. Diese Trennung soll die Tag- und Nachtwelt der Gedanken Tristans und Isoldes von den übrigen Figuren andeuten.
Die beiden Protagonisten Tristan (Ben Heppner) und Isolde (Nina Stemme), die bärig in einer Bauer-sucht-Frau-Attitüde einander umschleichen, transportierten trotz großer stimmlicher Qualität nicht den Funken großer Emotion. Von Passion, Leidenschaft oder gar Inbrunst gibt es keine Spur. Wagners Wechselspiel zwischen Liebeserfüllung und Liebesqual wird als nüchtern-kalter Braten serviert, der erst noch in den Ofen geschoben werden will. Verwirrend kommen hinzu Loys eigene Regieeinfälle: im Hintergrund turtelt plötzlich Brangäne mit Markes Mannen, Tristan löscht selbst das Licht, mit dem ihn Isolde ruft, es gibt keine Schiffe als Metaphern für Ferne und Sehnsucht, und, und, und.
Muss Wagner von jedem Regisseur neu erfunden und teilweise sogar umgeschrieben werden? Wie viel Vorwissen muss ein Operngänger heutzutage mitbringen, um eine Aufführung zu verstehen? Gerade Wagner ist ja wie kein anderer Komponist der Musikgeschichte von einem absoluten Gleichschritt von Musik und Text geprägt. Jeder Spannungsmoment, der auf der Bühne dargestellt wird, spiegelt sich in der Musik, und die Spielhandlung auf der Bühne kann eigentlich im Gleichklang fließen.
Ja, die Musik. Wunderschöne und mächtige Klänge. Samtig schimmernde, strahlende Streicher. Das Orchester des Royal Opera House bewältigt einen unglaublichen Berg Noten, und es tobt, tönt und trompetet aus dem Graben, als ob der Leibhaftige die Musiker treibt. Die große Schwierigkeit bei Wagner liegt allerdings darin, die entfesselte Klangfülle zu bündeln und zu bändigen, damit auch in den ruhigen Momenten ein silberner Sound aufsteigt, der Gänsehaut beschert. Dirigent Antonio Pappano schaffte es leider nicht immer, seine Truppe zu zügeln, und so singt beispielsweise John Tomlinson als König Marke trotz großer Stimmkraft gegen einen Klangteppich an, der in einigen Szenen keinen Ton zum Publikum durchlässt. Man spürt, dass dieses Orchester und sein Dirigent begeistert spielen, aber relativ unerfahren im Erklimmen des Wagner-Massivs sind. Umso höher sind Spielfreude und Leistung zu bewerten.
Christof Loy verschenkt mit seiner Inszenierung von »Tristan und Isolde« viel von den großzügigen Möglichkeiten, die der Stoff ebenso wie das Opernhaus im Londoner Covent Garden bietet. Entsprechend enttäuscht reagierte das Publikum. Es hatte deutlich mehr erwartet.